Sloterdijk gegen Sloterdijk, oder: Der Philosoph, die AfD – und die Angst vor der eigenen Wirksamkeit

Die zentrale Frage lautet: Wo liegt der Widerspruch des Philosophen? Er hat sich einst als Diagnostiker der Moderne verstanden, doch heute, da sich seine Gedanken in einer politischen Formation materialisiert haben, zieht er die Notbremse. Seine Thesen, die einst als intellektuelle Vorahnung galt, werden nun zur sozialen Grenzziehung: Hier das wahre Bürgertum – dort der Pöbel in Verkleidung. Doch genau an diesem Punkt wird Sloterdijks innerer Widerspruch sichtbar.

Sloterdijk hat die AfD als „bürgerlich verkleidete Hooligans“ bezeichnet, doch seine eigene Angst: der neue „Heidegger-Moment“, zeigt, dass er nicht um Heideggers Philosophie geht, sondern um das Verhältnis von Geist und Politik. Er weiß, was mit Heidegger geschah – und er weiß, wie gnadenlos der heutige Diskurs jede gedachte Nähe zu einer vermeintlich falschen, medial nachhaltig dämonisierten politischen Kraft ahndet. Denn er weiß, wenn er es nicht verdrängt hat: Viele jener kritischen Gedanken, die heute – leider allein – von der AfD artikuliert werden, standen vor ihr in seinen eigenen Texten, Vorträgen und Essays.

Die große Blindstelle: AfD als neue bürgerliche Kraft
Der blinde Fleck liegt dabei weniger in seiner Abneigung als im Ausblenden einer neuen Form bürgerlicher politischer Artikulation. Denn die AfD ist nicht bloß „wütend“. Sie ist nicht nur Protest. Sie ist nicht „Rand“. In großen Teilen ihrer Basis verkörpert sie genau das, was einst bürgerliche Chiffren ausmachte: Eigentum, Risiko, Leistung, Ordnungsvorstellungen, familiäre Kontinuität, Heimatbindung, Verantwortungsgefühl, Skepsis gegenüber Staat und (faulen) Eliten.

Kurz: Sie ist durchaus bürgerlich im Sinne von nicht links/woke, aber eben vielleicht ohne Salon. Und genau hier wirkt Sloterdijks Maßstab aus dem Rahmen gefallen. Für ihn entscheidet sich Bürgerlichkeit an ästhetischen Requisiten: Weinkeller, Bibliothek, Geschmacksbildung, Kulturbesitz. Doch gerade diese klassischen Marker sind es, die heute ihre gesellschaftliche Trägerschicht gewechselt haben.

Stattdessen entstand eine neue, rauere, vielleicht ungeschliffenere, aber real existente Bürgerlichkeit – ohne Abonnement, ohne Feuilleton, ohne Einladung zum Talk. Ein Bürgertum, das nicht kuratiert, sondern diffamiert wird. Was Sloterdijk verachtet, ist in Wahrheit keine Unkultur – sondern eine umkodierte Kulturform, eine Bürgerlichkeit ohne kulturelle Legitimation durch die alten Eliten.

Der verweigerte Gedanke: Die Seinslogik der AfD
Sloterdijk reduziert die AfD auf Verhalten. Auf Tonfall. Auf Stil. Auf Gestus. Er sieht Lautstärke, Schärfe, Provokation – aber er weigert sich, den ontologischen Kern zu erkennen, das, was man ihre Seinslogik nennen könnte. Die AfD ist nicht primär Verwaltung. Sie ist nicht einfach eine weitere Partei im Konkurrenzbetrieb. Sie versteht sich – ob man es mag oder nicht – als kultureller Gegenentwurf: gegen die linke Dominanz im Bildungswesen, gegen die moralische Umerziehung, gegen die Auflösung nationaler und familiärer Strukturen, gegen die Auflösung sprachlicher und kultureller Ordnung, gegen Identitätspolitik und Schuldreligion, gegen die Selbstauflösung der europäischen Völker. Das ist kein Hooliganismus, sondern metapolitische Übung.

Das Paradox Sloterdijk
Sloterdijk erscheint damit heute in einem tragischen Widerspruch zu seinem eigenen Werk: Er sprach von Immunreaktionen – und diffamiert nun eine Immunreaktion. Er beschrieb Zynismus – und redet nun selbst zynisch über eine gesellschaftliche Schicht. Er analysierte Vertikalverlust – und verspottet nun den Versuch, neue Vertikalität herzustellen. Er kritisierte die Moderne – und verteidigt nun ihren ideologischen Endzustand.

Was ihn schockiert, ist nicht wirklich die AfD. Was ihn ängstigt, ist etwas anderes: Dass sich seine eigenen früheren Gedanken eine politische Form gesucht – und gefunden haben. Davor weicht er zurück. Er beschimpft, was er einst beschrieb. Er verachtet, was er einst kritisierte. Er grenzt sich ab von dem, was er selbst mitgedacht hat.

Nicht die AfD ist sein größtes Problem. Sein größtes Problem ist seine Vergangenheit als Denker im Angesicht der öffentlichen Meinung. Die AfD ist wohl nicht Sloterdijks politische Heimat. Aber sie ist unbestreitbar auch ein Produkt jener Risse, die er selbst beschrieben hat – und ein Symptom jener Dekadenz, die er einst mit Scharfsinn analysierte. Und vielleicht liegt seine größte Schwäche heute nicht in einer falschen politischen Einschätzung – sondern in der Weigerung, sich zur Konsequenz seiner eigenen Gedanken zu bekennen.

Nicht die AfD ist das eigentliche Phänomen. Sondern ein Philosoph, der vor seiner eigenen Wirksamkeit erschrickt. Das wäre sehr schade. Denn einen besseren haben wir nicht.